Regie: Orson Welles
Opfer und Täter des Systems...
Als Prolog seines 1962 inszenierten Films "Der Prozess" stellte
Orson Welles die ebenfalls von Franz Kafka entlehnte so genannten
Türhüterlegende voran. Über eine Reihe von Zeichnungen, die der
Trickfilmer Alexandre Alexeieff anfertigte, sieht man einen Verurteilten
in verschiedenen Gefängnissituationen. Ein Mann wird gezeigt, der
versucht Einlass in "das Gesetz" zu erlangen. Der Türhüter vertröstet
den Mann jedoch immer wieder auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der
Zukunft. Jahre vergehen...kurz vor seinem Tod will der Mann wissen,
warum nie ein anderen Mensch jemals kam und Einlass verlangt hatte. Der
Türhüter anwortet ihm, dass dieser Eingang nur für bestimmt gewesen wäre
und nun werde er ihn schließen. Was folgt ist der schreckliche Alptraum
des aufstrebenden Prokuristen Josef K., gespielt von "Norman Bates"
Anthony Perkins.
Kafkas Roman beginnt mit den Worten "Jemand musste Josef K.
verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte, wird er
eines Morgens verhaftet" - so irritierend fängt auch die
Leinwandadaption von Orson Welles an. Der Mann wacht auf, weil sich die
Tür geöffnet hatte und plötzlich ein fremder Mann dort steht. Obwohl
dieser seltsame Herr nicht zu erkennen gibt, wer er ist und wieso er
hier plötzlich im Zimmer steht, wird schnell klar, dass es sich nur um
die Polizei handelt kann. Oder eine Art Ermittlungsbehörde. Zuerst
glaubt Josef K., dass der Mann zu seiner Zimmernachbarin Fräulein
Bürstner (Jeanne Moreau) will, die immer noch nicht zuhause ist. Das
Fräulein Bürstner ist Tänzerin, die Vermieterin Frau Grubach (Madeleine
Robinson) ist mit deren Lebenswandel ganz und gar nicht einverstanden.
Josef K. versucht bei dem undurchsichtigen Beamten Fräulein Bürstner zu
verteidigen, doch bald erfährt er, dass gegen ihn ermittelt wird und er
vom Gericht beschuldigt wird. Interessanterweise sind neben den drei
Beamten, die sich im Haus aufhalten, auch drei Arbeitskollegen von Josef
K. anwesend, was ganz nach einer ungerechtfertigten Verleumdung
aussieht - doch man gibt K. keine Anwort auf die Frage, was überhaupt
gegen ihn vorliegt. Stattdessen kann jedes Wort, dass er ausspricht,
gegen ihn verwendet werden. Zumindest versuchen die gewieften Beamten
ihrem Beschuldigten die Worte anders auszulegen. Ein schlechter Tag für
Josef K...er erwacht um festzustellen, dass er verhaftet wurde - aber
alle Einzelheiten der Anklage werden ihm vorenthalten. In dieser
Ausgangslage versucht Josef K. seine Unschuld zu begründen. Was aber
ganz schön schwierig ist, wenn man gar nicht weiß, wo die Schuld liegt.
Immerhin darf er weiter im Büro arbeiten und sein Onkel Max (Max
Haufler) hat für ihn den Advokaten Hastler (Orson Welles) engagiert.
Dieser lebt in einem Büro voller Aktenberge und hat mit der hübschen
Leni (Romy Schneider) eine Gehilfin, Haushälterin und Geliebte in einem.
In seiner Wohnung hält sich auch seit Jahren ein Klient (Akim Tamiroff)
auf, der dem Advokaten hündisch ergeben scheint. Irgendwann wird er von
der Polizei in den Gerichtssaal geführt und er hält eine flammende
Rede, die vom Publikum begeistert gefeiert wird. Hat er damit auch die
Richter überzeugt ? Eher nicht, wie er später von Hilda (Elsa
Martinelli), einer Gerichtsschreiberin, erfährt. Im Grunde sei er schon
so gut wie verurteilt, weil man den Verurteilten am Gesichtsausdruck
erkennen kann. Wieder und Wieder versucht Josef K. in dieser labyrinth
ähnlichen Umgebung der Wahrheit näher zu kommen und sich von einer
Anklage zu befreien, die niemand nennen wird. Doch am Ende steht die
Hinrichtung...
Der Schriftsteller Franz Kafka schrieb "Der Prozess" im Jahr
1914/1915. Er hat den Roman nie fertiggestellt und wurde erst nach
seinem Tod veröffentlicht. In einem Interview mit Peter Bogdanovich gab
Welles auch an, dass er immer wieder unter wiederkehrenden Albträumen
gelitten hatte, vor Gericht gestellt zu werden, ohne zu wissen warum und
dieser Film war "der autobiografischste Filme, den ich je gemacht habe"
- so Welles. Der Ausnahmeregisseur fand sogar, dass "Der Prozess" der
beste Film war, den er in seiner Laufbahn gemacht hatte. Die Machart
dieses Alptraums ist jedenfalls brillant - gegen Ende des Films die
Fabel vom Türwächter neu und projiziert die Zeichentrick-Dias diesmal
direkt auf das Gesicht von Josef K. Die unpassierbare Wache mutiert fast
zu einem Todesengel.
Die Geschichte von Kafka ist bedrückend und Welles
hat genau diese fiese Stimmung perfekt umgesetzt. Ist es die Angst vor
der Modernisierung, die Angst vor einem Staat, dessen Bürokratie und
Standards immer mehr über dem Menschen selbst stehen. Auch Josef K. s
Arbeitsplatz, an dem er so hängt, ist nichts weiter als eine Verwaltung
von Papierkram. Josef K. ist ein seltsamer Held - einerseits
introvertiert, schüchtern und nervös. Andererseits aber ein großer
Redner und wie andere sagen "einer, der diesem System Paroli bieten
könnte". Dabei wirkt er aber beinahe genauso kryptisch wie sein Umfeld -
die Geschichte ist deshalb so faszinierend, weil sie so instabil ist.
Formal ist "Der Prozess" eine schwarze Parodie auf das bürokratische
Rechtssystem - die Organisation dieser beschriebenen Ordnung erinnert
an totalitäre Systeme. Jeder ist nur für eine einzige Sache zuständig -
die Polizei weigert sich die Grenzen zu überschreiten. Sie sind nur für
die Ermittlung zuständig, für die Verurteilung gibt es die niedrigeren
Richter und irgendwann die höheren Richter. Ein System, dass vom
Einzelnen nicht durchschaut werden kann und soll. So ist die Paranoia
Programm in Welles "Der Prozess". Ein Film, der sicherlich sehr spröde
ist, aber sehr interessant gestaltet. So wirkt das Ende so, dass jeder
Ort - vom Opernhaus, über den Hörsaal bis zur Kathedrale - alles vereint
ist und nur eine weitere Facette derselben Unterdrückung darstellt.
Stilistisch hat sich Welles an seinen eigenen Noirs der späten 40s und
frühen 50s orientiert. Das Gespenst des Holocaust hebt dabei den Kopf
und durchdringt den ganzen Film mit einer morbiden Atmosphäre. Mit der
Rolle des Josef K. hat sich Anthony Perkins etwas vom Image des
Serienkillers Norman Bates freigeschwommen. Er spielt seine Rolle sehr
glaubwürdig und gestaltet seine Figur auch nicht sonderlich sympathisch,
was aber positiv ist. Er wirkt weinerlich, oft arrogant und immer
wieder verunsichert. Ein Mensch der Masse - die Gesellschaft
interessiert sich nicht für ihn, weder für seine Schuld noch für seine
Unschuld.
Bewertung: 9,5 von 10 Punkten.
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