Mittwoch, 4. Mai 2016

Die freudlose Gasse

























Regie: Georg Wilhelm Pabst

Mord in der Melchiorgasse...

Georg Wilhelm Pabst (1885 bis 1967) ist sicherlich neben Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau der bedeutendste Filmemacher des Weimarer Kinos. In der Stummfilmära drehte er Meisterwerke wie "Die Liebe der Jeanne Ney", "Die Büchse der Pandora" , "Tagebuch einer Verlorenen" und "Die weiße Hölle vom Piz Palü". Auch mit dem aufkommenden Tonfilm gelangen ihm hervorragende Filme wie "Westfront 1918", "Kameradschaft" oder "Die Dreigroschenoper". Sein berühmtestes Werk ist aber sicherlich der 1925 entstandene "Die freudlose Gasse", in dem gleich zwei ganz große Leinwandgöttinnen mitspielen. Zum einen die noch weitestgehend unbekannte Greta Garbo, auf dem besten Weg ein Weltstar zu werden und die große Asta Nielsen, die damals als beste Schauspielerin der Welt galt und als erste Filmdiva in die Filmgeschichte einging. Einer Legende nach soll sogar Marlene Dietrich unter den Akteuren gewesen sein, bewiesen wurde es nie und auch heute noch sind mehrere Sequenzen des Films verschollen. Die Fassung, die bei der Uraufführung am 18. Mai 1925 in Berlin gezeigt wurde, hatte eine Länge von 3738 m. Durch die ersten Zensuren blieben noch 3477 Meter übrig. In Deutschland wurden mehrere Versuche unternommen, den Film zu rekonstruieren. Man wollte wieder möglichst nah an die Urfassung herankommen. Dies erfolgte in mehreren Phasen. Der erste Versuch geht auf Enno Patalas zurück. Von 1995 bis 1997 verwendete Jan-Christopher Horaks alle bekannten Negativfilme und sämtliches verfügbares Material, aus denen sich Hinweise über die richtige Reihenfolge der Szenen und Zwischentitel ergab. Stolz blickte man auf eine Rekonstruktion, die eine Länge von etwa 3000 Metern aufwies.  Pabsts Film ist einer der am meisten verstümmelten und gekürzten Filmwerke. Dies lag vor allem an moralischen Bedenken der Filmzensoren, denn zur Zeit der Entstehung hatte die Geschichte, die der Film erzählt, erheblichen Sprengstoff-Charakter. Viele warfen dem Film entsittlichende und verrohende Tendenzen vor. "Die freudlose Gass" spielt zur Weltwirtschaftskrisenzeit in den frühen 20er Jahren in Wien. Dort herrscht Inflation und Hunger. Aber auch Luxus und Vergnügen. Die Handlung spielt sich vornehmlich an zwei ganz unterschiedlichen Orten ab. Zum einen in der Melchiorgasse. Diese ehemals bürgerliche Wohngegend ist zum Armenviertel verkommen. Man sieht eine Schlange wartender, abgehärmter Frauen, vor denen sich die Tür des Metzerladens schließt, nachdem sie ganze Nacht dort angestanden haben. Der andere Schauplatz ist ein Luxushotel der oberen Zehntausend - dort in den Foyers und Ballsälen halten sich Aktienspekulanten und Börsenmakler auf, raffgierige und sexsüchtige Männer.  Unter ihnen befindet sich der junge aufstrebende Bankbeamte Egon Stirner (Henry Stuart), der mit drei Frauen eine Beziehung laufen hat. Regine (Agnes Esterhazy), die reiche Tochter des Generaldirektors Rosenow (Karl Etlinger) liebt ihn, aber will nur dann eine Beziehung mit ihm eingehen, wenn er genauso reich wie sie wird oder wenn sie genauso arm wie er würde. Dies stachelt den jungen Mann auf. Er hat eine heimliche Liason mit der verheirateten Lia Leid (Tamara Tolstei). Geliebt wird er auch von der armen Maria Lechner (Asta Nielsen), die alles für ihren Egon tun würde. Maria und ihre Eltern wohnen im gleichen Haus wie der Hofrat Rumfort (Jaro Fürth) mit seinen beiden Töchtern Grete (Greta Garbo) und Mariandl (Loni Nest). Dieser nimmt das Angebot an sich für eine üppige Abfindung frühzeitig pensionieren zu lassen und verliert durch seine Spekulation an der Börse das gesamte Vermögen. So gibt es in der Melchiorgasse neben den verarmten Bürgern und dem Lumpenproletariat nur zwei wohlhabende Menschen: Den Fleischer Josef Geiringer (Werner Krauss), dem sich verzweifelte Mütter für ein Stück Fleisch hingeben und Frau Greifer (Valeska Gert), die gleich um die Ecke einen Modesalon mit angeschlossenem Nachtclub betreibt. In diesem Nachtclub verkehren die wohlhabenden Bürger Wiens, wo die Mädchen aus der Unterschicht sich für Geld an reiche Männer verkaufen. Denn an den Nachtclub angegliedert ist das Stundenhotel "Merkl". Dort bezahlen die Mädchen mit sexuellen Dienstleistungen, die ihnen von Frau Greifer gewährten Kredite ab. Und dann passiert ein Mord....



Der Film begründete Georg Wilhelm Pabsts Renommee als führender Regisseur des deutschen Filmrealismus.Trotz eines Happy-Ends, das entgegen der literarischen Vorlage als Zugeständnis an die Produzenten und das Publikum gedreht wurde, bietet der Film genügend Sprengstoff, denn es dominiert das Tauschgeschäft "Fleisch gegen Fleisch" Ein Querschnitt menschlicher Schicksale im Wien der Inflationszeit: In der Melchiorgasse liegen Elend und Luxus nah beieinander. Hier treffen sich die Verlierer und Gewinner, Prostituierte und Geschäftemacher, Kuppler und Spekulanten.
Der Film beruht auf der Bearbeitung eines 1924 erschienenen Romans von Hugo Bettauer und wurde in nur fünf Monaten realisiert. Mit welcher Eleganz die 20 jährige Greta Garbo durch diese Gasse stolziert und sich mit anbetungswürdigem Blick der gierigen Männer erwehrt, ist beeindruckend. Verletzlich und stolz zugleich und wunderschön. Viele Szenen bleiben eindrucksvoll im Gedächtnis haften, so zum Beispiel das Ende, wo es  im Dach des Hauses zu brennen anfängt oder die Szene, in der die zwei Frauen - bettelnd nach Fleisch - die Metzgerei betreten und der Metzger, immer in Begleitung seiner großen Dogge, den Preis aushandelt, wenn nicht mit Geld bezahlt werden kann. Eine Paraderolle für Werner Krauss - ein großer Schauspieler, aber leider auch ein Antisemit. "Die freudlose Gasse“ ist vieles: Sozialdrama, Krimi, Ensemblefilm und Zeitportrait der Weimarer Republik. Die rekonstruierte Fassung hat eine Laufzeit von 148 Minuten - es ist ein fasziniernder Film, der auch heute wieder mit der zunehmenden Kluft zwischen Reich und Arm ein Thema ist. Pabst baute seine Elendsviertel im Atelier auf und fing sie in expressiven Bildern mit raffinierten Lichteffekten auf. Es enstanden pittoreske Bilder. "Die freudlose Gasse" zeigt irgendwie den Niedergang des Bürgertums, nur die Spekulanten sind Nutznießer dieser Not.



Bewertung: 10 von 10 Punkten.

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